Exzerpt aus: Axel Brauns: Buntschatten und Fledermäuse
Axel Brauns
Buntschatten und Fledermäuse
Leben in einer anderen Welt
1.
Der Dienstag meiner Geburt war ein besonderer Tag, nicht nur für mich, nicht nur für meine
Eltern und meinen Bruder, nicht nur für Eimsbüttel oder Hamburg - es war ein besonderer
Tag für alle Menschen. Der Grund dafür ist einleuchtend und unbekannt: Es war der 183. Tag
des Jahres 1963. In seiner Bedeutung ist der 183. Tag eines Jahres allenfalls mit Neujahr oder
Silvester zu vergleichen. Dass diese Tatsache so wenigen Menschen bekannt ist, verwundert
mich. Der 183. Tag ist die Mitte des Jahres. Warum haben Anfang und Ende des Jahres
eigene Namen? Warum hat die Mitte des Jahres keinen Namen? Es gibt leichte Fragen und es
gibt schwere Fragen. Manche lassen sich schnell beantworten, manche verlangen ein wenig
mehr Zeit. Für meine Familie hat der 2. Juli noch eine weitere Bedeutung: 39 Tage zuvor hat
mein Bruder Geburtstag, 39 Tage danach meine Mutter. Ich bin über diesen seltenen Zufall
zutiefst erfreut.
2.
Manche Autisten verleben still, in sich gekehrt, ihre Tage, andere toben herum, weil ihnen die
Welt durch den Kopf rennt. Manche Autisten lernen es nie, sich richtig zu bedanken, anderen
kommen diese Floskeln so trefflich über die Lippen, dass der Eindruck entsteht, sie
verstünden, was ihnen da herausrutscht. Manche Autisten lachen gerne und plappern viel,
andere sind eher sachlich und einsilbig. Manche Autisten verzweifeln an trübsinnigen
Gedanken, andere haben ihre Zelte auf der heiteren Seite des Lebens aufgeschlagen.
Das Leben im Autismus ist eine miserable Vorbereitung für das Leben in einer Welt ohne
Autismus. Die Höflichkeit hat viele Näpfchen aufgestellt, in die man treten kann. Autisten
sind Meister darin, keines auszulassen.
3.
Wie lernt man es, Menschen wahrzunehmen, wenn man sie nicht wahrnimmt? Wie flattert
man als Fledermaus durch die Welt, wenn man keine Fledermaus ist? Wenn ich in
Gesprächen mit vermeintlich vollständigen Menschen diesen Grundriss meines Lebens
erwähne, ernte ich immer ein überraschtes Gesicht und im gleichen Atemzug sagen alle, dass
ich gar nicht wie ein Autist aussähe. Ich antworte dann, da hätten sie Recht. Ich gehöre zu den
leichten Fällen und habe großes Glück gehabt.
Seit ich 21 bin, lebe ich in einer eigenen Wohnung und verdiene meinen Lebensunterhalt
selbst. Da ich mich, im Gegensatz zu vielen Autisten, nicht mit Begleitbehinderungen
herumplagen muss, kann ich im Alltag meine Unauffälligkeit genießen. Diese Unauffälligkeit
habe ich mir hart erarbeiten müssen. Noch vor ein paar Jahren hat mir an Ausdruck all das
gefehlt, was vermeintlich vollständige Menschen auszeichnet. Heute ist das zum Glück
anders: Meine Stimme klingt lebendig, mein Gesicht zeigt deutlich Gefühle, die Hände
verweigern sich nicht mehr den Gebärden und mit meinen Blicken suche ich gerne nach
den Fledermausaugen. Geblieben ist meine Art Humor, die mich oft schmunzeln lässt, wo
Nichtautisten kein Korn Komik erblicken. Kaum ein Leser dürfte, falls er über das Wort
Näpfchen gestolpert ist, ermessen haben, wie glücklich ich mich schätze ein so niedliches
Wort gleich zu Beginn in meinem Buch begrüßen zu können.
4.
Die ersten zwei Jahre meines Lebens war ich in dem Hamburger Stadtteil Eimsbüttel zu
Hause. Meine Eltern wohnten dort in der Eduardstraße. Schon Mitte der fünfziger Jahre hatte
mein Vater sein Biologiestudium zugunsten seines Brotberufes aufgegeben. Als sich der
höchst seltene Brotberuf zu einem einträglichen Geldberuf mauserte, richtete meine Mutter
ein Nest her und meine Eltern erfüllten sich ihren Kinderwunsch. Mein Bruder wurde 1962
geboren. Meine Mutter kündigte ihre Stelle als Sekretärin und ein Jahr später kam ich zur
Welt. Mitte der 6oer Jahre zog Wohlstand bei meinen Eltern ein. Sie wussten nicht, wie lange
er bei ihnen zu Gast bliebe. Sie hofften natürlich, dass er nicht gleich wieder abreisen würde.
Von morgens bis abends setzten sie all ihren Fleiß und all ihre Findigkeit ein, damit er sich
auf Dauer bei ihnen wohl fühlte. Ein neuer Auftrag kam herein. Im Spätsommer 1965 wagten
meine Eltern den Sprung von Eimsbüttel in die Elbvororte nach Groß Flottbek, von einer
Mietwohnung in ein eigenes Haus. Zehn Viererreihen von Hofhäusern bildeten auf der
östlichen Seite des Vorbeckweges hübsch ordentlich eine Siedlung. Die elfte Reihe fehlte,
was zwei Dutzend Kinder freudig begrüßten. Ein Spielplatz hatte es sich in der Mitte der
Siedlung gemütlich
gemacht.
Als ich zwei Jahre alt war und schon im Hochhaus wohnte, verloren die Menschen um mich
herum ihr Aussehen. Ihre Augen lösten sich in Luft auf Nebel verschleierte ihre Gesichter.
Die Stimmen verdunsteten. Mit der Zeit verwandelten sich die Menschen um mich herum in
flatterhafte Schatten, die auf mich wirkten, als wären sie aus dem All in meine Welt
herabgeschneit. Mir fiel es nicht leicht, sie wahrzunehmen, sie waren nahezu unsichtbar in
einer Welt, die sichtbar blieb. Später verschmolzen diese flatterhaften Wesen zu bunten
Schatten. Ich lernte sie zu unterscheiden. Da gab es die gutartigen Wesen, das waren die
Buntschatten, und da gab es die bedrohlichen Wesen, das waren die Fledermäuse. Ein
Buntschatten konnte sich urplötzlich in eine Fledermaus verwandeln und umgekehrt,
ohne dass ich verstand warum. Die pfützenhaften Gesichter dieser Wesen dampften wie nach
einem Regen und ihren Mündern entwich Lärm, aus dem ich weder Klang noch Bedeutung
heraushören konnte. In mir kehrte Stille ein. Ich verlor den Drang, meine Welt mit anderen zu
teilen. Meine Lippen ermüdeten. Wenn ich etwas sagte, schleppten sich kranke Wörter über
meine Zunge. Meine Sätze kamen immer spärlicher verkürzten sich. Die Silben verdorrten,
wurden zu Staub. Bald stammelte ich nur noch. Meine Sprache ver:armte. Dieser Verlust
wurde sichtbar: Ich deutete nurmehr mit Händen und Armen an, was ich Wochen zuvor noch
lippenmüde in Worte gepresst hatte. Die Ver:armung meiner Sprache griff weiter um sich. Ich
war mir selbst genug. Erst ein Jahr später hörte ich zum ersten Mal wieder aus dem Lärm, den
Buntschatten Sprache nennen, Klang und Bedeutung heraus.