Walter Kempowski - Tadellöser & Wolff

Historiograph des vergangenen Deutschland

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1929 Geboren am 29. April in Rostock

1944 Im September Einweisung in eine Strafeinheit der Hitlerjugend.

1945 Am 17. Februar Einberufung als Luftwaffenkurier. Am 26. April fällt der Vater auf der Frischen Nehrung.

1948 Besuch in Rostock, am 8. März Verhaftung, am 20. August zusammen mit seinem Bruder von einem sowjetischen Militärtribunal wegen Spionage zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt, seit Anfang September im Zuchthaus Bautzen. Verurteilung der Mutter zu zehn Jahren Strafarbeitslager im Frauengefängnis Hoheneck wegen »Nichtanzeigens von Agenten des ausländischen Nachrichtendienstes«.

1956 Am 7. März vorzeitige Entlassung aus dem Zuchthaus

1957 In Göttingen Abitur und Studium an der Pädagogischen Hochschule. Recherchen für eine umfangreiche Familien-Chronik.

Dorfschule in Breddorf bei Zeven

1971 Mit Tadellöser & Wolff Auftakt zur Deutschen Chronik. Förderpreis des Lessingpreises der Stadt Hamburg.

1996 Großes Bundesverdienstkreuz.

† 5. Oktober 2007 in Rotenburg (Wümme)
Walter Kempowski

Nensch: Walter Kempowskis Miese-Stempel und Gütesiegel

(www.nensch.de/story/2007/10/7/185728/199)

„Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman”.
Ein familieninterner Sprachscherz ist das: „Tadellos” ist eine superlativische Wertung, man kann sie eigentlich nicht steigern. Die Kempowskis aber haben den Komparativ „Tadellöser” und  dann noch einen Superlativ, den  „Tadellöser & Wolff”. Die Firma „Loeser & Wolff” stellt Zigarren her. Karl Kempowski,  Rostocker Reeder, Leutnant der Reserve, männliches Oberhaupt der Kempowskifamilie,  klassifiziert spielerisch das hauseigene Tabakmaterial: Gute Zigarren, die er und andere rauchen,  sind „Tadellöser”, Zigarren,  nur für ihn sind „Tadellöser & Wolff”. Zigarren für Verwandte und Lieferanten sind „Miesnitzdörfer  & Jensen”.  

Die Familie Kempowski  - der Vater Karl, die Mutter Grete, die Tochter Ulla und die beiden Söhne Robert und Walter - lieben  ihren Privatjargon, man „hökt sich nicht” bei solch Kalauer-Komparation  - munter klassifiziert man Essen, Musik, Politik. Alles kriegt die kempowskische  Brandmarke ab, das Gütesiegel oder den Miese-Stempel.

Was macht das „Branding” dieser Kempowskis aus, was kennzeichnet sie?  Das, was jeder Leser kennt, der Binnenraum der Familie,  ihre  Sprechweise -  ihre bewährten  Orientierungsmuster,   ihre Rezepte für das Leben „innen” und das Leben „außen”. Die Wahrnehmungsmuster einer bürgerlichen Mittelschicht („Ein bürgerlicher Roman”) beherrschen die Seiten. Wie sie die Zeit des „Dritten Reiches” wahrnimmt. Und schon stellen sich vielleicht Fragen ein:

  • Was wusste die Familie Kempowski damals vom Faschismus oder was (wie viel)  konnte man wissen, wenn man denn nur wollte?
  • Hat man mit vollem Bewusstsein schlimmes Handeln der Führung billigend in Kauf genommen, hat man es sogar gewollt und befürwortet?
Aber: Kaum direkte Antworten. All das gefasst in der Perspektive des zwölfjährigen Walters.  Sein Standort liegt unmittelbar im Geschehen. Wir nehmen  mit seinen Augen und Ohren wahr, was geschieht. Impressionen, Augenblicksbilder, alles sehr nahe an dem  Erlebenshorizont des Jungen. Warum das? Warum nicht die Information über das Ganze?
  • Kurze Momentaufnahmen - optisch als Textblöcke, als Miniszenen  sichtbar - reihen sich als kleine Miniaturen hintereinander. Short-Cuts sind das, Minimalszenen. Sie lassen  sich  oft austauschen oder streichen, ohne dass sich der Sinn des ganzen Textes gravierend ändern würde. Also Überflüssig? Also strukturlose Addition von Bildern?
  • Überleitungen und Verknüpfungen, die wir von  fortlaufendem Erzählen kennen, fehlen oder sind höchstens in Spuren vorhanden.  Gewiss hat auch ein Junge seine Einstellung zum Geschehen, er beurteilt  schließlich sein  Umfeld. Aber er äußert sich kaum. Und würde er sich äußern,  so wäre das kaum reflektiert. Und damit dann auch nicht verbindlich.
  • Was bewirkt die „einfache”, die deutungsabstinente Erzählweise beim Leser? Liefert sie ein unberechtigtes, unreflektiertes Verständnis für diese Mittelschichtmentalität? Einlullende Komik, ein betüterndes Verharmlosen? Humorige Kauzigkeit unverhältnismäßig angesichts des Sujets? Ein Manko, ein Defizit, ein produktives Ausklammern? Oder: Erkennendes  Lachen,  satte Groteske von Selbstbezogenheit und Naivität?

Ein typischer, familiärer  Mittelschichts-Code ist bei den Kempowskis zu beobachten:

  • Bildungscode, Verdrängungsroutinen, Erklärungsklischees und manchmal fade Floskeln.
  • Daneben aber auch zum Lächeln - wie in jeder Familiensprache -  Anekdoten und Privatscherze („immerhinque”; „Wie isser bloß gesund, der Vati; nicht tot zu kriegen, ganz entsetzlich”),
  • Kosenamen („Peterpump”, Na du Schleef"),
  • Wertungen („völlig verbumfeit”; „Gut dem Dinge”; „Ihr sollt mal sehen, das wird noch wunderbar”; „Gutmannsdörfer”; „Kann es nu nich immer so sein?”; „Klare Sache und damit hopp!”)
  • und Frotzeleien („Du siehst ja wirklich verheerend aus, so speckig und verpupt. Wirklich ekelerregend. Viehisch.”)
Und  man spürt als Leser  all die Wärme und Sicherheit, die man in einem  familiären Biotop genießen kann, selbst wenn man unglücklich ist, weil der Krieg wütet: „Oh, oh, das sieht ja böse aus. Wie is es nu zu fassen. Aber ihr werdet sehen, das Rad dreht sich.”

"Confrontation between the private and the political spheres of life"

www.intouchde.org.uk

His still most popular work is Tadellöser & Wolff, published in 1971, and made into a superb television series by one of Germany's most impressive directors, Eberhard Fechner, in 1975. It was even shown on one of the British television channels with sub-titles, if I remember correctly. But, so far as I know, the book remains unavailable in English.

Walter Kempowski's homepage (www.kempowski.de): "Das eigentliche Thema des Romans ist die Konfrontation des Privaten mit dem Politischen, die Frage nach dem Verhalten des deutschen Bürgertums in Deutschlands dunkelsten Zeitläuften. Hinter all den Sonderlichkeiten, den Sprüchen und Harmlosigkeiten bürgerlicher Existenz scheint das Versagen einer ganzen sozialen Schicht auf. (The actual subject of the novel is the confrontation between the private and the political spheres of life, the question of how the German middle class behaved during Germany's darkest days. Behind all the odd habits, the little sayings and the artlessness of bourgeois existence is revealed the failure of an entire social class.)
[...W]hat is meant by "the failure of an entire social class"? "Failure" and "entire" both smack of prejudice. [...] Isn't the author allowed to have simply enjoyed writing about his family history? Is it really necessary for him to justify having been born into a family which happened to be German and happened to live during the last stages of the Imperial German Empire, the First World War, the Allied Occupation, the Weimar Republic, the Second World War, the second Allied Occupation and the division of Germany into East and West?

All that said, I do hope a competent and sensitive translator will be found to give us an English version of Kempowski's Tadellöser und Wolff (1971). Kempowski wrote it in the language of his remembered youth and the family conversations are full of the sort of quirky expressions that close-knit families often develop, a miniature language understood only by the initiated, interspersed with allusions and humorous wordplay. Maybe younger generations are so dominated by what they pick up from films and television that they don't develop private family languages any more. We did, and I remember the first time I read Tadellöser und Wolff being fascinated to discover that the Kempowskis spoke in their own language just like we used to, a mini-dialect, as it were, funny and cosy and irreverent. The title of the book Tadellöser und Wolff, for instance, was Herr Kempowski's favourite way of expressing approval, a mixture of the adjective tadellos (faultless) and Loeser und Wolff, the name of the firm where he bought his cigars. The firm had its own building on the corner of Potsdamerstraße and Schöneberger Ufer - you can occasionally catch a glimpse of it in films of old Berlin - a fine seven-storey house built in the late twenties. Frau Kempowski comments gently on all and sundry with the words Wie isses nun zu fassen? or Wie isses nun bloß möglich? (roughly equivalent to Would you believe it?) and Zu und zu schön! (too, too lovely!). Talk is laced with self-fabricated Latinisms reminiscent of schooldays - immerhinque (even so), with nautical terms -Volle Kraft voraus! (full steam ahead! - when turning on the taps on the washbasin), with Low German dialect - Na denn giv mi ma mine Tasch. Is dat noog? (Well then give me my wallet. Is that enough? - Grandfather handing out pocket money) and with snatches of hymns, rhymes and advertising jingles, depending on the context. The real sense of the Kempowski family conversation is almost impossible to translate adequately, and this is doubtless is true of all such homemade languages. After all, their purpose is the sharing of common humour and the expression of affection without the embarrassment of becoming too emotional, while at the same time excluding strangers from the conversation.

www.intouchde.org.uk

Kempowski - mehr als Tadellöser & Wolff

(www.kempowski-gesellschaft.de/)

Mitverantwortlich für den Erfolg von Tadellöser und Wolff ist sicher auch die Verfilmung, die Eberhard Fechner 1972 für das ZDF produziert. Für die weitere Kempowski-Rezeption hat diese Adaption allerdings eine äußerst zwiespältige Wirkung: Völlig unbestritten ist, dass Fechners Film Fernsehunterhaltung auf höchstem Niveau bietet. Die Kritik des deutschen Bürgertums, die den Roman kennzeichnet, kann auf dem Bildschirm allerdings kaum zum Ausdruck gebracht werden. Die Eingängigkeit des Filmes hat zur Folge, dass mancher Kritiker sich nicht mehr die Mühe macht, Kempowski im Original zu lesen. Die Gleichsetzung von Roman und Verfilmung ist mitverantwortlich für die Wende in der Kempowski-Rezeption, die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre spürbar wird: Nach anfänglichem Lob setzen sich allmählich Interpretationsansätze durch, die in Tadellöser und Wolff lediglich rührselige Erinnerungsliteratur erkennen wollen. Kritiker überlesen das kritische Potential des Romans, ihnen fehlt es bei Walter Kempowskis an der offenen politischen Stellungnahme. Mit seinen Bemerkungen zur Deutschlandpolitik oder dem energischen Plädoyer für den Erhalt der so genannten „Zwergschulen“ zeigt Kempowski auch in den folgenden Jahren wenig Neigung zur Anpassung an den Zeitgeist. Kempowskis Unangepasstheit bringt ihm schnell oberflächliche Etikettierungen wie die des „schreibenden Dorfschullehrers“ oder „verschrobenen Dokumentensammlers“ ein. Im bundesrepublikanischen Literaturbetrieb bleibt er Außenseiter. Ablehnung und Kritik treffen den Schriftsteller und lassen ihn zunehmend empfindlicher werden. Seine literarische Produktion bleibt davon allerdings unbeeindruckt: In den folgenden Jahrzehnten fügt Kempowski seinem Werk weitere Komponenten hinzu: Es entstehen Schulfibeln und Kinderbücher, Hörspiele, Tagebücher und weitere Romane. Darüber hinaus veranstaltet er Literaturseminare, fördert den schriftstellerischen Nachwuchs und lehrt an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland.

Walter Kempowskis letzter Dialog

(taz, 06.10.2007)

Im Himmel. Am Tor zum Paradies ist ein kleines Schild angebracht: "Paradies. Bei Petrus hier klingeln". Walter Kempowski klingelt. Ein bärtiger Herr öffnet das Tor...

"Ja, bitte?"

"Guten Tag, Walter Kempowski."

"Wie isses nur möglich?"

"Wie bitte?"

"Ach, Herr Kempowski. Greulich und abscheulich, dass Sie jetzt auch schon bei uns gelandet sind.

"Sie kennen mich?"

"Was das nun wieder soll? Wohl vom Wahnsinn umjubelt. Wir sind hier Ihre größten Fans."

"Na immerhinque, mühsam ernährt sich das Eichhörnchen."

"Wir kennen es alles in- und auswendig: noch und nöcher."

"Gut dem Dinge."

"Und jetzt diese Scheiße mit Reiße. Es ist nicht schön, Sie so aus dem Leben gerissen zu sehen."

"Miesnitzdörfer und Jensen."

"Wirst mal sehen, Peterpump, das Rad dreht sich auch wieder."

"Timotheus, Timotheus, Pukking!"

"Tu mir die Liebe: Kommen Sie erstmal herein."

"Klare Sache, und damit hopp."

(Walter Kempowski tritt nach rechts ab ins Paradies.)

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