Detlev von Liliencron: Trutz, blanke Hans

[…] Am 15. Januar 1362, begann die Zweite Marcellusflut, hier im Norden besser bekannt als Grote Mandrenke. Die Sturmflut fiel erst am 17. Januar wieder ab. In ihrem Verlauf zerlegt sie die Uthlande in Inseln, Halligen und Marschen, die Stadt Rungholt versank.
Detlef von Liliencron, der 1882 zum Hardesvogt der heutigen Hallig Südfall ernannt wurde, verdichtete die Rungholtsage zu seiner wohl bekanntesten Ballade. Rungholt war wohl eine bäuerliche, für damalige Verhältnisse große Stadt, unterhielt aber keine Städtepartnerschaften mit Sündenbabel, Atlantis, Sodom und Gomorra. [:)] Gleichwohl wurde aus Rungholt nach und nach ein sagenumworbener Ort voller Reichtum, Gottlosigkeit und anderer Schlechtigkeiten. Erst in diesem Jahrhundert konnte ihre Existenz und genaue Lage aufgrund von Funden zweifelsfrei belegt werden.
Rungholt
Quelle: Landesblog Schleswig-Holstein
Detlev von Liliencron (T, 1883) / Achim Reichel (M, 1978): Trutz, blanke Hans

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers zitterte, stöhnte,
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, blanke Hans!

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
liegen die friesischen Inseln im Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut,
taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.
Trutz, blanke Hans!

Im Ozean, mitten, schläft bis zur Stunde
ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen,
und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Trutz, blanke Hans!

Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tiefer Atem ein
und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, blanke Hans!

Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr faßt selbst der größte Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, blanke Hans!

Auf allen Märkten, auf allen Gassen
lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
»Wir trutzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!«
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, blanke Hans!

Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,
der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.
Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
belächelt der protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.
Trutz, blanke Hans!

Und überall Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:
Das Scheusal wälzte sich, atmete tief
und schloß die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
kommen wie rasende Rosse geflogen.
Trutz, blanke Hans!

Ein einziger Schrei - die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Trutz, blanke Hans!

Detlev Freiherr von Liliencron (1844-1909)

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