Sumaya Farhat-Naser, Birzeit Universität, über die Mauer und die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten (2003)


"Wir müssen unsere Menschlichkeit wahren und unsere Vernunft wieder finden"

Sumaya Farhat-Naser, Birzeit Universität, über die Mauer und die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten

Liebe Freunde,

es gäbe so viel zu berichten, täglich könnte ich schreiben. Es schmerzt, wenn man sich ständig mit all der Schwere befasst. Heute habe ich mich entschlossen das Thema "Mauer" näher zu bringen. Das nächste Mal, schreibe ich über die interne palästinensische Situation, danach wieder über meine Arbeit mit den Jugendlichen, die sehr gut weiter geht und Quelle meiner Kraft und Hoffnung ist.

Nur Vögel könne sie leicht überwinden, die Wand, mit der sich Israel auch selbst einmauert. (dpa)
Die MAUER zwischen unseren beiden Völkern, mit Gewalt errichtet, unterstützt die Ideologie der Landnahme und der Ausgrenzung der Palästinenser. UN-Resolutionen, Internationale Menschen- und Völkerrechtskonventionen sowie unterschriebene Verträge werden missachtet und umgangen. Nicht Ethik und Gerechtigkeit, sondern einzig Macht bestimmt die Politik von Heute. Die Bezeichnungen " Schutz-" oder "Sicherheits-Zaun", "Trenn-Wand", "Barriere", oder "Apartheid-Mauer" bringen Verwirrung, verschleiern die Realität und zeigen deutlich den Widerspruch zwischen den nationalen Interessen beider Völker. Wenn Mauern Sicherheit garantieren, warum werden sie dann nicht auch als Sicherheitsstrategie in anderen Ländern errichtet? Die Antwort ist einfach: Hier herrscht eine Besatzung, die Land und Boden will, und die Palästinenser kontinuierlich "aushungern" will.

Die bereits am 25.August 1978 veröffentlichte Landkarte in der Zeitung Al Hamishmar zeigte die Wunschvorstellung von Sharon im Bezug auf die besetzten Gebiete. Die Teilgebiete, die den Palästinensern damals übrig bleiben sollten, ähneln sehr stark den Gebieten nach Fertigstellung der Mauer. Geht ein Traum(a) von vor 25 Jahre nun in Erfüllung?

In meinen Ohren klingt ein Satz von einem israelischen Politiker: "Im Krieg macht man Dinge, die in Normalzeiten nicht zu machen sind." Die Situation des Chaos und die Spirale von Gewalt und Gegengewalt ist ideal, um auch auf anderen Gebieten - von der internationalen Öffentlichkeit fast unbemerkt - Tatsachen zu schaffen.

Die Grenze Israels von 1967 (die sog. Grüne Linie) beträgt 360 km. Die geplante Mauer wird 1.000 km überschreiten, weil sie sich tief in die besetzten Gebiete schlängelt. Ein erster Teilabschnitt von 145 km ist jetzt fertig gestellt. Es folgt eine kurze Beschreibung dieser ersten Phase. Als Grundlage dient dabei der Bericht von B'Tselem, einer israelischen Menschenrechtsorganisation, mit dem Titel "Behind The Barrier" von April 2003.

Die Trenn-Mauer, auch Barriere genannt, besteht teils aus Beton teils aus einem Stacheldrahtzaun. Bestandteile der Mauer sind: Elektronische Zäune mit Warnsignale sowie Wachtürme mit Scharfschützen. Auf der östlichen Seite der Barriere erstreckt sich eine so genannte "service road" umgrenzt von Stacheldrahtzaun. Östlich davon sind Gräben, einige Meter tief und breit. Auf der westlichen Seite der Barriere sind: ein Kontrollstreifen und eine Panzerspur. Dahinter erstreckt sich ein zweiter Stacheldrahtzaun.

Die Mauer reicht sechs bis sieben km tief in die Westbank, um Hinterland für Siedlungen zu sichern. Sie schafft Enklaven im Saumgebiet zwischen den beiden parallel verlaufenden Abgrenzungen. Die Mauer nimmt den Palästinensern rund 161.700 Dunum, was 2,9 Prozent der Westbank ausmacht. Betroffen sind 210.000 Einwohner in 67 Dörfern und Städten.

Viele Gemeinden und Menschen werden durch die Mauer nun aber auch willkürlich von ihren Ländereien getrennt: Ihre Häuser liegen westlich, ihre Länderein östlich der Mauer. Betroffen sind 72.200 Einwohner in 36 Dörfern

  • 32 Brunnen (= 18 % der westlichen Wasserreserven) sind im Saum eingeschlossen und gehen den Palästinensern verloren.
  • Eine Verbindungsstrasse, die den Israelis freie Fahrt die von Nord nach Süd mitten durch die Westbank ermöglichen soll, vereinnahmt 17 % der besetzten Gebiete, weil eine Zone von der Größe dreier Fussballfelder auf beiden Seiten entlang der Strasse, als Sicherheitszone genommen dient.

Fünf Haupttore und 26 "Agrar-Tore", an denen jeweils Passierscheine verlangt werden, sind errichtet worden. Es ist sehr schwer solche Passierscheine zu bekommen, die Beantragung bzw. Bewilligung dauert Tage, mitunter Wochen.

Die Schäden für die Wirtschaft, Bildung, das soziale Leben durch diese, den Menschen auferlegte Bewegungseinschränkung, der Verlust von Land und Eigentum sind jetzt schon unermesslich hoch und bedrohen in einem noch stärkeren Maße als bisher die Existenz der Palästinenser. Wie wird es erst nach Fertigstellung der Mauer sein? Für den Beobachter liegt die Vermutung nahe, dass sich mit all dem die Absicht verbindet, den Menschen das Leben so schwer zu machen, dass sie es nicht mehr ertragen können und sich entschließen das Land zu verlassen. Ist damit die Sicherheit wieder hergestellt?

Die jetzige Politik verfolgt ehrgeizig den Mauerbau, ungeachtet der Schäden und des Leids, welche der israelischen Gesellschaft und den Menschen in Israel und Palästina zugefügt wird.

Die Hudna- Waffenstillstand

Endlich war es möglich, dass ein Hudna, Waffenstillstand, seitens der Palästinenser, erreicht wurde. Hoffnungsvolle Atmosphäre und Erleichterung wurden spürbar, verknüpft mit beginnender Verbesserung der Alltagssituation. Dem israelischen Militär passte die Hudna nicht, denn das würde bedeuten, die Militäraktionen müssen gestoppt werden. Die Taktik von Ben Gurion passte genau: "Provozieren um zu reagieren, wir sagen Ja, wenn sie Nein sagen, und wir sagen Nein, wenn sie Ja sagen". Die Israelische Regierung verkündete, dass Hudna eine palästinensische Angelegenheit sei, und Israel die Politik der Ausschaltung politischer Aktivisten weiter führen werde. Die Hudna wurde vom Militär - wie Uri Avnery, ein israelischer Schriftsteller, schrieb - wie folgt kommentiert:" Jeder Tag Hudna ist ein Desaster! Die Reduktion der Gewalt auf fast Null ist ein großer Unglück: Unter dem Deckmantel der Hudna können sich die Terrororganisationen erholen und neu formieren. Jeder verhinderte Anschlag heute wird uns morgen umso härter treffen."

Innerhalb der ersten sechs Wochen Hudna, tötete israelisches Militär 21 Palästinenser, und verletzte mehr als 160 Menschen bei der sog. "gezielten Tötung" von Aktivisten, mit Raketen und Bomben auf offener Strasse, sodass auch viele Zivilisten, darunter Kinder getötet oder verletzt wurden. Hauszerstörungen, Landnahme und Mauerbau gingen weiter. Damit war die Hudna zum Scheitern verurteilt. Der Kreis der Gewalt und Gegengewalt war eingeleitet: Am 8. August 2003 töteten israelische Soldaten zwei Hamas Kämpfer in Nablus. Die Vergeltung fand am 12. September, sechs Wochen nach Beginn der Waffenruhe seitens der Palästinenser statt: Hamas Attentäter töteten einen Israeli in Rosh-Ha'ayn und einen Siedler in Ariel Siedlung. Dies war nun der Anfang neu ausbrechender und eskalierender Gewalt. Jeden Tag werden Menschen getötet, andere verletzt, gefangen genommen und gefoltert. Das Leiden wird schrecklicher und blockiert den Weg zur Versöhnung. Solange Besatzung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit herrschen, so lange wird es Widerstand geben. Tausende sind bereit sich zu wehren - und das mit allen Mitteln.

Wie viele müssen noch getötet werden, und wie erreicht man, dass keine neue Generationen von Kämpfern folgen werden? Die Antwort ist: Ende der Besatzung und eine gerechte Lösung, entsprechend der internationalen Legitimität, die einen wahren Frieden für beide Seiten bringt. Beide Gesellschaften leiden schwer und erkranken zunehmend am Verlust ihrer Menschlichkeit und Moral. Wir brauchen eine internationale Intervention, die beiden Seiten zur Vernunft verhilft. Anschläge auf Zivilisten und jegliches Töten sind Verbrechen, das niemals akzeptiert werden dürfen. Dieser Kreislauf muss sofort enden. Jede Verletzung, Tötung, jedes Unrecht vertieft die Gräben der Feindseligkeit und erschwert die Heilung und Genesung auf beiden Seiten. Wir müssen Rechenschaft ablegen uns selbst gegenüber, müssen unser Versagen zugeben und Verantwortung wahrnehmen. Wir müssen unsere Menschlichkeit wahren und unsere Vernunft wieder finden. September, 2003

Ihre/eure Sumaya Farhat-Naser,
Birzeit Palästina
September 2003

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