Sumaya Farhat-Naser: Hermann Kesten-Preis 2002
Hermann Kesten-Preis 2002
Es ist mir eine große Freude und Ehre, die Hermann-Kesten-Medaille empfangen zu dürfen, stellvertretend für alle Autorinnen und Autoren, die sich für die Wahrung der humanen Werte einsetzen und das geschriebene Wort als Mittel des Kampfes für Freiheit und Menschenrechte gebrauchen. Die Würdigung gilt all jenen, die die Wahrheit aufdecken, die Lebenssituationen der Menschen aufzeichnen, ihre Empfindungen und Gefühle wiedergeben, Unterdrückung und Entwürdigung sowie Diskriminierung und Ausgrenzung beim Namen nennen und jegliche Gewaltanwendung verurteilen - auch wenn sie dadurch Gefahren ausgesetzt sind und in ständiger Bedrohung leben müssen. Sie wahrzunehmen und anzuerkennen, sie zu ermutigen und ihnen einen gewissen Schutz zu bereiten ist von hohem Wert.
Wir befinden uns zur Zeit in der brutalsten Phase unseres Konfliktes. Unser Dasein beruht auf einer Ideologie, die das Existenzrecht der anderen Seite als im Widerspruch zum eigenen Existenzrecht verstanden wissen will. Deshalb wird die praktizierte Politik auf das Ausgrenzen des Anderen, das Negieren seiner Identität und Rechte ausgerichtet. Die Enteignung von Grund und Boden, die Zerstörung der Infrastruktur und des sozialen Gefüges, die Verhinderung einer normalen, gesunden gesellschaftlichen Entwicklung, die alltägliche Störung von Bildung und Erziehung werden mit dem eigenen Sicherheitsbedürfnis gerechtfertigt. Unsere beiden Völker stehen sich gegenüber als Besatzer und Besetzte, wie Herren und Knechte. Niemals kann ein Volk auf Dauer ein anderes Volk beherrschen, demütigen, entrechten und dabei selbst human, demokratisch und normal bleiben.
Solange beide Völker danach streben, die andere Seite in Ghettos oder Bantustans einzuschließen, zerstören sie sich. Niemals kann eine Seite Land, Sicherheit und Frieden für sich allein beanspruchen. Beide Seiten gewinnen dies aber, wenn sie sich gegenseitig dieselben Rechte zugestehen, das begangene Unrecht eingestehen und zugeben, dass das Land beiden gehört, dass es groß genug ist für beide Völker, so dass jedes Volk im eigenen Staat frei und souverän leben kann. Eine politische Perspektive für Freiheit und ein Leben in Würde ist das einzige Mittel, um die Gewalt zu beenden, um eine friedliche Koexistenz und schließlich auch Versöhnung zu schaffen.
Wer um diese Probleme mehr wissen will, kann sie erfahren. Doch die meisten wollen möglichst wenig davon wissen, weil es schwer ist, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen - vor allem als Deutsche. In Israel existieren viele Menschenrechtsorganisationen und Friedensgruppen, die täglich über die Ungerechtigkeiten berichten, die sich aktiv und vielseitig einsetzen, um den Unterdrückten beizustehen und ihre Not mitzutragen oder gar zu lindern. Ihre Schriften und Dokumentationen liefern die Beweise, und ihre Stimmen sind wie Lichter, die unserem Volk noch Hoffnung schenken und uns nicht ganz verzweifeln lassen. Mit großer Ehrfurcht und hohem Respekt möchte ich ihnen allen danken. Hier nenne ich stellvertretend Gush Shalom mit Uri Avnery, Bat Shalom, Ta'ajush, Oz ve Shalom, B'tselem, das Komitee gegen Hauszerstörung, das Komitee gegen Folter in Israel. Vertreterinnen und Vertreter dieser Organisationen standen zum Beispiel in letzter Zeit als menschliche Schutzschilde zwischen Militär und Siedlern auf der einen und den palästinensischen Bauern auf der andern Seite, damit die Olivenbäume ohne Gefahr für die palästinensischen Pflücker und Pflückerinnen abgeerntet werden konnten. Friedensgruppen bringen Nahrung und Medikamente in Gebiete, die durch zerstörte Straßen und Checkpoints komplett abgeriegelt sind; sie spüren die Entwürdigung und Entrechtung, decken sie auf und berichten darüber. Das sind humanitäre Einsätze. Friedensarbeit in solcher Situation ist äußerst schwierig, denn die Priorität des Alltags heißt, irgendwie zu überleben. Friedensarbeit bedeutet heute, die brutale Politik der einen Seite genau so zu verurteilen wie die Gewalttaten der andern. Doch macht es einen Unterschied, ob man in einem demokratischen Staat lebt oder ob man unter Besatzung und dazu noch in einer kaputten Gesellschaft lebt, deren staatliche Strukturen zerstört sind und der es an jeglichem Schutz mangelt.
Als vor drei Jahren Gila und ich Leiterinnen der israelischen und der palästinensischen Frauenzentren des Jerusalem Link waren, basierte unsere Zusammenarbeit auf politischen Grundprinzipien, die beide Seiten sich gemeinsam erarbeitet hatten und die für beide verbindlich waren. Wir einigten uns darauf, dass die Besatzung beendet werden muss und die Siedlungen geräumt werden müssen, da sie gegen das Völkerrecht verstoßen; dass zwei Staaten aufgrund der UNO-Resolutionen und der internationalen Menschenrechtskonventionen entstehen sollen. Als offizielle Vertreterinnen der Zentren mussten wir auf die jeweilige politische Atmosphäre Rücksicht nehmen, und es gab kaum Raum für persönlichen Austausch. Um nicht in den Verdacht einer "Normalisierung in einer anormalen Situation" zu kommen, trafen wir uns nur offiziell und im Namen der Zentren. Niemals besuchten wir uns privat oder trafen uns zu einem gemeinsamen Essen. Wir trafen uns ausschließlich zu Arbeitsbesprechungen. Wir schrieben uns meist nur MEMOs vom einen zum anderen Zentrum, oft ohne persönliche Unterschrift. So sollte die politische Zusammenarbeit in den Vordergrund gerückt und das Persönliche als "inakzeptabel" respektiert werden.
Die Gespräche waren oft schwierig, denn beide
Seiten sind sehr sensibel und leicht verletzlich. Es
genügte manchmal ein Wort, welches das
Gespräch zum Platzen brachte und die nach vielen
Stunden erreichten Verständigungsansätze in
wenigen Minuten zunichte machte. Es dauerte dann
jeweils Wochen, bis die Gespräche wieder
aufgenommen werden konnten. Um dieser verlorenen Zeit
entgegenzuwirken, begannen wir uns zu schreiben. In
meinem Buch: "Verwurzelt im Land der Olivenbäume"
berichte ich darüber:
Schriftlich in einen Dialog zu treten machte vieles
leichter: Probleme ließen sich breit darlegen,
Gefühle konnten bedacht und vorsichtig formuliert
und Gedanken vollständig übermittelt werden,
da weder Mimik, Körpersprache noch provozierende
Worte und direkte Reaktionen des Gegenübers den
Gedankenfluss störten. So blieb der Prozess des
Dialoges erhalten. Ich schrieb an Gila. Sie las meinen
Bericht, der sie vielleicht ärgerte, erstaunte
oder in Wut versetzte, aber das geschah in meiner
Abwesenheit. Zugleich verstand sie, je mehr sie las,
meine Gedanken besser, hatte bestimmt ab und zu ein
Aha-Erlebnis, und ihr Wissen um meine Sorgen und meine
Lebenssituation erweiterte sich. Ein Prozess der
Einfühlung in die Situation der Anderen, ein
gewisser Respekt, vielleicht auch Bewunderung wurden
möglich. Danach schrieb sie mir ihre Gedanken und
Ansichten, und ich machte denselben Prozess
durch.
Beim Schreiben fallen einem eher nette Worte ein und es
ist leichter, Komplimente zu machen. In der
Öffentlichkeit stehen wir uns vorsichtig
gegenüber; wir vermeiden zu kritisieren, ein
Gegenargument zu bringen oder auf einer politischen
Stellungnahme zu bestehen. Das Schreiben dagegen ebnet
den Weg für eine Annäherung. Das Schreiben
wirkt wie eine Therapie.
Erst als wir uns im Ausland zu Seminaren und Konferenzen trafen, tauschten wir uns auch persönlich aus und lernten uns kennen, erfuhren mehr über unsere Familien, unsere Sorgen und Hoffnungen. Da erkannten wir, welche Bereicherung dies für uns bedeutet. Als wir nicht mehr Leiterinnen des Zentrums waren, fühlten wir uns frei, losgelöst von den Zwängen der totalen Loyalität gegenüber der Politik. Ja, wir fühlten unsere Stärke und konnten uns menschlich stärker zuwenden. Es entfaltete sich ein wunderbarer schriftlicher Dialog, der zwar hoch politisch ist, jedoch menschliche Züge aufweist. Dieser Dialog dauert an - und ich bin glücklich über diese Erfahrung.
Die deutsche Sprache und ich
Mit der deutschen Sprache lebe ich; sie begleitet mich
im Denken und Kommunizieren wie auch im Handeln und
Wirken. Ich spreche, schreibe und singe sie - zum
Erstaunen meiner Leute. Sie wundern sich, und sie
finden das Fremde, das Andere lustig, sie lachen.
Ich meisterte die deutsche Sprache, so lernte ich sie
lieben. Ich fühle die Nähe zu allen, die sie
sprechen, ich verstehe ihre Gefühle, ihre Anliegen
und ihre Kultur. Sie lehrte mich, das Andere und Fremde
zu respektieren. Sie machte mich vertraut mit der Kunst
der Verständigung und des Verhaltens, mit der Art
und Weise des Ansprechens, Argumentierens und
Präsentierens. Die Sprache ermöglicht
gegenseitigen Respekt und die Wahrnehmung - sie bietet
die Grundlage für friedliche Koexistenz, für
das Sich-wohl-Fühlen und für den Erfolg.
Seit mehr als zwanzig Jahren trete ich in Deutschland auf, schreibe und vermittle Informationen über die Situation und den Konflikt in Palästina. Die Last der Shoa, die Angst vor aufkommendem Antisemitismus, aber auch die Angst vor unberechtigten Vorwürfen des Antisemitismus zerreißen die Menschen und machen sie unfähig, normal und human zu handeln. Sie reden nicht Klartext, schweigen lieber. Manche bringen ihre Wut über die israelische Politik nur hinter vorgehaltener Hand zum Ausdruck. Manche glauben, sie dürften sich als Deutsche nicht kritisch zu Israel äußern. Ein Verhalten, das erst recht den Antisemitismus fördert. Wichtig ist, dass man unterscheidet zwischen den verantwortlichen Politikern und ihrer unverantwortlichen Politik und den Menschen, die auf beiden Seiten zu Opfern dieser Politik werden. Die Lehre aus der Shoa sollte die sein, nie wieder Rassismus und Ausgrenzung zuzulassen - auch nicht im Nahen Osten. Ich wünsche mir, dass dies ebenso für uns Palästinenser gilt.
Deutschland hat aus historischen Gründen eine
besondere Beziehung zu Israel und nimmt daher die
Sorgen und Probleme der Menschen in Israel und in
Palästina nicht in gleichem Maße wahr. Damit
ist aber keiner Seite geholfen.
Deutschland muss innerhalb der Europäischen Union
Verantwortung für die Einhaltung der Menschen- und
Völkerrechte beider Völker mit
übernehmen. Wer diese Werte für sich selbst
schätzt, weiß auch, wie sie zu verwirklichen
sind.
Ich danke dem P.E.N.-Zentrum Deutschland, ich danke Uri Avnery - auch als Stellvertreter für alle Friedensaktivisten - für seine Worte, seine Schriften, seine Gedanken und seinen Einsatz. Ich danke Gila als Mitstreiterin und Freundin für die Erfahrung, die wir gemeinsam erleben.
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