Ein dummer Krieg

Viel ist über die Unfähigkeit der gewählten Regierung gesagt worden, sich gegenüber dem Armeekommando in Diskussionen über Leben und Tod, über einen Kriegsbeginn und die Durchführung eines Feldzuges, zu behaupten. Die Leute trösten sich mit dem Gedanken, dass wir jetzt einen „erfahrenen“ Verteidigungsminister haben, Ehud Barak, einen früheren Generalstabschef, Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister. Aber der Personalwechsel bringt nicht unbedingt eine Veränderung im Mächtegleichgewicht mit sich: auch in der Zukunft wird ein Haufen Politiker, die zufällig Mitglieder der Regierung geworden sind, es nicht wagen, den autorären und entschlossenen Ansichten der militärischen Führung gegenüber zu treten, die immer - wirklich immer - einen „professionellen“ Geheimdienstbericht liefert, um diese Ansichten zu unterstützen.


Ein dummer Krieg

Uri Avnery

EIN DETEKTIV, der ein Verbrechen aufzudecken versucht, stellt die Frage „cui bono?“ (Wem nützt es?) Wenn wir versuchen, das Verbrechen, das „Zweiter Libanonkrieg“ genannt wird, aufzudecken, muss diese Frage an erster Stelle stehen.

Vorgestern, genau ein Jahr nach Kriegsanfang, widmeten alle israelischen Medien einen großen Teil ihrer Zeit rückblickenden Analysen dieses Krieges. Eine Fernseh-Stunde nach der anderen, eine Seite nach der anderen in den Printmedien.

Als der Krieg ausbrach, feuerten alle Medien Olmert an. Abgesehen von ein paar einsamen Stimmen funktionierten die Medien wie eine Gruppe herumtanzender Cheerleader bei einem amerikanischen Fußballspiel. Die Antikriegsdemonstrationen wurden beiseite gewischt. Kein Wunder, dass auch in dieser Woche der Antikriegsprotest vollständig ignoriert wurde, und alle Kritik in den Medien von der politisch Rechten kam.

Dutzende scharfzüngiger Fragen wurden erhoben: Warum wurde die Entscheidung übereilt getroffen? Warum war die Armee nicht bereit? Warum war das Hinterland im Norden nicht auf einen Krieg vorbereitet? Nur eine Frage wurde nicht gestellt: Warum eigentlich wurde ein Krieg geführt?


FRAGE NUMMER 1: Wer wollte davon profitieren?

Um zu verstehen, warum der Krieg ausbrach, sollte man nicht die Frage stellen, wer profitierte tatsächlich davon? Die entscheidende Frage ist, wer hätte von dem Unternehmen profitiert, wenn er – wie geplant – ein Erfolg gewesen wäre?

Derjenige, der am meisten profitiert hätte, wäre der Präsident der USA gewesen. George Bush steckte schon tief im irakischen Sumpf. Er benötigte verzweifelt einen Erfolg im Nahen Osten.

Die israelische Armee sollte die Hisbollah vernichten, die als Teil der „Achse des Bösen“ betrachtet wird, um so der pro-amerikanischen Marionettenregierung von Fuad Siniora zu erlauben, den ganzen Libanon zu kontrollieren. Da niemand Zweifel an der riesigen Überlegenheit der israelischen Armee über die kleine Guerillagruppe hegte, glaubte man, sie in wenigen Tagen zu erledigen.

Das Szenarium schließt ein zweites Kapitel ein: die siegreiche israelische Armee sollte die syrische Armee provozieren, so dass nach einem kurzen Krieg das Regime von Bashar al-Assad in sich zusammenstürzt. Die „Achse des Bösen“ wäre auf diese Weise zerschlagen worden. Die amerikanische öffentliche Meinung wäre überzeugt worden, dass die „Vision“ des Präsidenten Bush realisiert worden sei: „Demokratie“ im Nahen Osten wäre triumphierend auf dem Vormarsch, das Irak-Fiasko wäre irrelevant geworden.

Der zweite Profiteur würde Ehud Olmert gewesen sein. Der Ministerpräsident, der durch reinen Zufall das Amt von Ariel Sharon übernommen hatte, und der bis dato als unbedeutender Politiker angesehen worden war, wäre als hervorragender Führer, Staatsmann und Stratege anerkannt worden. Selbst der Gewerkschafts-Heini (Peretz), den Olmert mit dem Verteidigungsministerium beauftragt hatte, hätte daraus Kapital geschlagen.

Nach diesem Szenario wäre die Bedrohung Israels aus dem Norden beseitigt, das Arsenal von Raketen wäre zerstört worden. Die Hisbollah wäre von der Landkarte gewischt worden, eine Allianz hätte sich zwischen Jerusalem und der Marionettenregierung der Amerikaner in Beirut gebildet. Und wenn auch noch Syrien zusammengebrochen wäre, dann wäre eine ideale Situation erreicht worden. Die ganze Bedrohung des Nordens Israels, die das israelische Militär seit Jahrzehnten beunruhigte – der „Halbmond“ Irak, Syrien und Libanon - wäre neutralisiert worden. Olmert wäre als der Mann in die Geschichte eingegangen, der den Vers aus der Bibel gelöscht hätte: „Von Norden her wird das Unheil losbrechen über alle, die im Lande wohnen.“ (Jeremia 1, 14).

Die indirekten Profiteure wären die Herrscher Ägyptens, Jordaniens und vielleicht auch Saudi-Arabiens gewesen. Die Palästinenser wären in ihrem Kampf sogar mehr denn je isoliert worden.

Wer drängte wen in den Krieg? Drängte Bush Olmert oder drängte Olmert Bush? Es mögen Jahre vergehen, bevor man dies sicher weiß – und tatsächlich ist dies ziemlich unwichtig.


FRAGE NUMMER 2: Wer hat tatsächlich von diesem Krieg profitiert?

Zu jedermanns Erstaunen ist Israels Armee an seiner Aufgabe gescheitert. Die Hisbollah wurde nicht besiegt, sondern hielt gegen eine Militärmaschinerie stand, die als die fünft stärkste in der Welt angesehen wird. Es war der längste Krieg in den Annalen Israels seit 1949 und der endete in einer Pattsituation. Wer profitierte also?

Nicht Israel. Die Luftwaffe zerstörte zwar einen großen Teil von Hisbollahs Arsenal von Langstreckenraketen, aber die Kurzstreckenraketen verursachten Chaos im Norden Israels und machten der ganzen arabischen Welt deutlich, wie verwundbar Israel für diese Art Waffen ist.

Die beiden gefangen genommenen israelischen Soldaten - die die verlogene Rechtfertigung für den Krieg lieferten – wurden nicht befreit. Internationale Truppen sind zwar als Puffer zwischen Israel und die Hisbollah gelegt worden. Dies war als riesiger Erfolg dargestellt worden. Doch vor dem Krieg war das israelische Militär hartnäckig gegen genau solche Militärkräfte. Die Armee fürchtete den Verlust ihrer Aktionsfreiheit gegenüber der Hisbollah. Nun verteidigen die UN-Truppen die Hisbollah gegen die israelische Armee genau so wie sie Israel gegen die Hisbollah verteidigen.

Die USA profitierten auch nicht von diesem Krieg. Nach durchsickernden Berichten aus Washington hat der Misserfolg der israelischen Armee Bush wütend gemacht. Er hat seinen Zorn auf Olmert gerichtet. Die israelische Armee habe ihn enttäuscht. Im Laufe des Krieges hat Bush mit der großzügigen (und verabscheuungswürdigen) Hilfe verschiedener Regierungen, einschließlich Deutschlands, immer wieder das Eintreten eines Waffenstillstands verhindert, um Israel ein bisschen mehr Zeit zu geben, seine Aufgabe zu erfüllen. Doch dies half nichts.

Auch die Hisbollah hat nicht gewonnen. Ihre Standhaftigkeit gegen die israelische Armee wurde zwar von vielen als Heldentum betrachtet, das die Würde der ganzen arabischen Welt wiederherstellte. Hisbollahs Verluste werden seitdem wieder wettgemacht. Aber Hassan Nasrallah, der eine außerordentliche Integrität ausstrahlt, befand es für notwendig, in der Öffentlichkeit zuzugeben, dass er den anfänglichen Vorstoß in israelisches Territorium nicht durchgeführt hätte, wenn er gewusst hätte, was danach folgen würde. Er entschuldigte sich bei den Libanesen, Israel einen Vorwand für den Krieg geliefert zu haben, der so viel Tod und Zerstörung im Libanon angerichtet hatte.

Die Hisbollah ist vor allem ein Teil der libanesischen Szene. Das Hauptziel Nasrallahs ist für die Hisbollah – und für sich selbst - eine dominante Position im politischen System seines Landes zu sichern. Seine Verbindungen mit Syrien und dem Iran sind eine Folge dieses Ziels. Die schiitische Verschwörung und die terroristische „Achse des Bösen“ existieren nur in der blühenden Phantasie von George W.

Der Krieg hat die Hisbollah im Libanon nicht geschwächt. Einen Beweis dafür gab es in dieser Woche, als der Präsident Frankreichs, Nicholas Sarkozy, die Hisbollah einlud, an einer Konferenz aller libanesischen Gruppierungen in Paris teil zu nehmen. Aber es scheint, dass der Krieg die Hisbollah auch nicht gestärkt habe.

Hat der Iran profitiert? Nachdem die USA ihm den Gefallen getan und den Irak zerstört hat, der Jahrhunderte lang als Sperrgürtel zwischen dem Iran und dem arabischen Nahen Osten gedient hat, hat er nun im Irak genau wie im Libanon ein Einflussgebiet hinzugewonnen. Das hat aber auch seine Nachteile: diese Situation drängt seine potentiellen Feinde unter der Führung von Ägypten und Saudi Arabien zu Präventivaktionen.

Die Schlussfolgerung: keiner hat in diesem Krieg gewonnen, der so viel Tod und Zerstörung verursacht hat: nach den letzten Zählungen wurden in den 34 Kriegstagen 119 israelische Soldaten und 39 Zivilisten und 1200 libanesische Zivilisten und Kämpfer getötet. 2250 Israelis und 4400 Libanesen wurden verletzt. 300 000 Israelis und eine Million Libanesen mussten ihre Häuser verlassen, und
200 000 Libanesen sind noch immer nicht zurückgekehrt.


FRAGE NUMMER 3: Hat Israel irgendwelche Folgerungen daraus gezogen?

Seit einem Jahr zieht jeder eifrig "Schlussfolgerungen“. Von der Winograd-untersuchungskomission bis zum letzten Fernsehreporter. J-e-d-e-r.

Aber dies ist eine Täuschung. Als Ergebnis der Konspiration des Schweigens im Hinblick über die grundsätzlichen Fragen dieses Krieges ist es völlig unmöglich, sich mit den Ursachen des Problems zu befassen.

Jeder beschäftigt sich natürlich mit der Rehabilitation der Armee. Gott sei Dank, hat sich alles verändert. Anstelle des „beflügelten“ Armeechefs (Halutz) haben wir nun einen mit Staub bedeckten Kommandeur, Gabi Ashkenazi. Jeden Tag sehen wir im Fernsehen, wie die Brigaden trainieren, wie Soldaten zwischen Dornenbüschen herumkriechen und wie Panzer vor Ort eingesetzt werden. Das nächste Mal (und jeder betrachtet es als selbstverständlich, dass es ein nächstes Mal geben wird) wird die israelische Armee bereit sein.

Keiner weist auf die Absurdität dieses Spektakels hin. Die Armee war für den letzten Krieg nicht vorbereitet, also trainiert sie jetzt mit großer Entschlossenheit – für den letzten Krieg. Die Folgerungen sind aus dem Mangel an Einsatzbereitschaft für den vergangenen Feldzug gezogen worden, also ist jetzt jeder für den vergangenen Feldzug bereit.

Wenn es etwas gibt, dass man mit Sicherheit über den nächsten Krieg vermuten kann - falls es einen geben wird - dann ist es, dass er sicher keine Wiederholung des letzten sein wird. Raketen werden sicher eine größere Rolle spielen, und diese werden eine größere Reichweite haben. Die Waffen werden noch raffinierter sein. Das Schlachtfeld wird ein anderes sein.

Viel ist über die Unfähigkeit der gewählten Regierung gesagt worden, sich gegenüber dem Armeekommando in Diskussionen über Leben und Tod, über einen Kriegsbeginn und die Durchführung eines Feldzuges, zu behaupten. Die Leute trösten sich mit dem Gedanken, dass wir jetzt einen „erfahrenen“ Verteidigungsminister haben, Ehud Barak, einen früheren Generalstabschef, Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister. Aber der Personalwechsel bringt nicht unbedingt eine Veränderung im Mächtegleichgewicht mit sich: auch in der Zukunft wird ein Haufen Politiker, die zufällig Mitglieder der Regierung geworden sind, es nicht wagen, den autoritären und entschlossenen Ansichten der militärischen Führung gegenüber zu treten, die immer - wirklich immer - einen „professionellen“ Geheimdienstbericht liefert, um diese Ansichten zu unterstützen.

Dieses Phänomen hat Israel seit seiner Gründung begleitet. Ein starker Führer wie David Ben Gurion und vielleicht Ariel Sharon, könnte - vielleicht, vielleicht – irgendwie dieses Ungleichgewicht aufheben. Aber das Ungleichgewicht bleibt.

Dies findet jetzt in endlosen Reden über „den nächsten Krieg“ seinen Ausdruck, „Krieg in diesem Sommer“, „eine Fehlkalkulation, die womöglich einen Krieg mit Syrien einleitet“, „Der unvermeidliche Angriff auf Irans Nuklearanlagen“ und so weiter. Es ist die Armee, die den öffentlichen Diskurs bestimmt. Und wie der frühere Oberrabbiner Frankreichs in dieser Woche in Jerusalem klagte: „Das Wort 'Frieden` ist in Israel ein schmutziges Wort geworden.“

Fast jeder Krieg ist ein dummer Krieg. Der letzte Krieg war dümmer als die meisten anderen. Der nächste Krieg, falls es einen geben wird. wird sogar noch dümmer sein.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)

Keine Kommentare: